Dienstag, 13. Januar 2009

Auszug aus "Chrysalis"

Buch 2, Kapitel 1


Zwischen Zeitlosigkeit und höllischem Schwefelgestank hängt ein knospender Menschenkörper und absorbiert durstig die Lichtlosigkeit seiner Umgebung. Wie ein zu groß geratener Seestern an den abyssalen Steilhang geschmiegt, dort, zwischen den Schloten der schwarzen Raucher, wähnt er sich in Sicherheit. Tatsächlich bleibt er dank der fehlenden Leuchtorgane lange Zeit unentdeckt. Vereinzelt setzt sich mikroskopisches Plankton auf den Schultern ab, und in Schwefel verliebte Bartwürmer befühlen die Haut in der Grube zwischen Schlüsselbeinen und Brüsten. Vorerst werden diese Streicheleinheiten noch nicht wahrgenommen, denn im derzeitigen Stadium der Selbstregeneration ist vom Kopf nichts weiter als eine unscheinbare Erhebung zu sehen, Anzeichen für ein erstes Sprießen des Stamm- und Kleinhirns.

Aus den Öffnungen eines schlanken Schornsteinpaares schießt mit 400 °C Schwefelwasser, das sich, sobald es auf das kalte Meerwasser trifft, in dichte dunkle Wolken verwandelt. Für viele entbehrlich, bringt es anderen Nährstoffe und der Kopflosen vor allem regenerative Energie. Noch nie war ein Menschenkörper so weit unten gewesen! Wie gelangte er hier hinunter? Und was mag dieses Wesen vorhaben? Wieso ist es in höheren lichtdurchfluteten Regionen nicht von Raubfischen zerrissen worden? Im Abyssus ist sein Körperumfang für die meisten, wiewohl durchaus dehnbaren, Mägen zu groß.

Eigentlich ist die Stille der Tiefsee kaum zu ertragen. In ihrem Fall jedoch gibt es das unaufhörliche Brodeln der Raucher, eine beruhigende Geräuschkulisse, die bei Erwachen die Ankunft in die Welt der Wahrnehmungen begleiten wird. Soll das Hirn unter solch radikaler sensorischer Deprivation wiedergeboren werden, so muss es wenigstens einen auditiven Bezugspunkt geben.

Der Druck der enormen Wasserlasten, der das frische erdnussgroße Hirn der jungen Frau beschwert, soll sich als äußerst angenehmer Umstand einprägen. Später, wenn sie in die höheren Meeresebenen aufsteigt, wird ihr diese Krafteinwirkung oft abgehen. Das Fehlen der Kubikkiloliter bewirkt eine Sensation, als ob der Kopf sich vom Rest des Körpers ablösen und davonschweben wollte. Gefühle der Haltlosigkeit, die sich aus dem Zentrum bis in die äußersten Hautlagen der Finger- und Zehenspitzen ausbreiten und analytisches Denken behindern. Da wo sie jetzt ist, etwa 3000 Meter unter dem Meeresspiegel, kann sie nicht zerfallen. Der Druck hält sie kompakt.

In der Tiefsee kennt niemand ihre Vergangenheit. Und sie selbst? Wird sich ihr neuer Kopf erinnern, warum der alte von einem Krokodil abgetrennt worden war? Und hat ihr restlicher Körper irgendwo Informationen der halbstündigen Rutschpartie in den Atlantik gespeichert? Dass er dort von einem alten Pottwal in Empfang genommen und zu seinem jetzigen Versteck gebracht worden war? Wie bei abgeschnittenen Fingern, die wieder angenäht werden sollen, war das Maßgebliche in ihrem Fall nichts als Tempo gewesen. Der mächtige Leviathan tauchte, indem er das Spermaceti in seinem monumentalen Schädel so schnell er konnte abkühlen ließ. Binnen einer halben Stunde hatte er mit Hilfe des Echoklickens den richtigen Ort gefunden und den Leib so positioniert, dass er genug heilendes Eisen, Mangan, Kupfer, Zink, Sulfide und andere Salze der Thermalquelle abbekommen würde. In den kommenden Jahren wird der eigensinnige Riese regelmäßig hinabtauchen, um nach dem Rechten zu sehen. Ob die Gestalt noch ordentlich zwischen dem Gestein klemmt, ob sie womöglich Spuren von Riesenkrakenbelästigung aufweist, und vor allem, wie es um den Wuchs des Köpfchens bestellt ist. Denn damit hatte selbst er als Säugetier mit dem zweitgrößten Gehirn keine Erfahrung. Aber diese Art der regenerierenden Lagerung bei den schwarzen Schornsteinen war seine Idee gewesen und lange hatte er auf den richtigen Menschen gewartet. Mit dieser Frau, so seine Hoffnung, wäre endlich die erste Versuchsreihe zu eröffnen. Das Ziel, auserwählten Menschen mehr als bloßes Atemvermögen unter Wasser zu schenken, war in greifbare Nähe gerückt. Aus der kopflosen Schönheit soll ein lebensfähiger Unterwasserorganismus werden, der später die Interessen der Meereslebewesen an Land vertritt. Ein Organismus, der ohne Aufsehen zu erregen, zwischen den unterschiedlichen Milieus pendeln und agieren kann. Ohne Zweifel wird die Adaptation des ersten Versuchsobjekts noch unausgegoren sein, jedoch einen Meilenstein in der Geschichte des Terrorismus darstellen. Ja, der alte Schlaumeier lässt sich nicht weiter auf halbe Sachen ein. Die Missionararbeit für Greenpeace hat er seit langem wie eine zu enge Haut abgestreift, auch wenn er deren Ziele und Bemühungen schätzt. „Nicht schlecht für Menschen, aber bei weitem nicht effizient genug für uns Wale!“ predigt er nun seinen Artgenossen. Bei der zähflüssigen Arbeit mit den NGO’s war seine Geduld schließlich mit dem gesamten Impetus der unbeschreiblichen Körpermasse gegen die diamantenen Grenzen seines Willens gedonnert und in tausend Teile geborsten. Von da ab wollte er auf eigene Faust die großen Zerstörer des Meeres bekämpfen. Koste es, was es wolle! Und die meisten Menschenleben bedeuten wirklich nicht allzu viel.

Während seiner Visiten bei den schwarzen Rauchern wird er also vor allem das Schädelwachstum unter die Lupe nehmen, ob es gut und gleichmäßig voranschreitet, ob der Kopf sich auch schön von Kirschgröße zu Pflaumen-, Apfel- bis zu Honigmelonengröße herausschält. Spätestens dann will der Leviathan schnell den Atlantik, das Karibische Meer und den Panamakanal durchqueren, um im Pazifik angelangt sich auf die Suche nach dem berühmten Hammerhai, der als Hypnotiseur im Hospizbetrieb DynPs, angestellt ist...